Im Rahmen der Stadtverordnetensitzung wurde am 2. Juni 2022 der Denkmalpreis 2022 der Universitätsstadt Gießen durch den Magistrat verliehen. Mit diesem Preis werden seit 2018 Denkmaleigentümer in der Stadt Gießen ausgezeichnet, die in vorbildlicher Weise und mit großem ideellem und finanziellem Aufwand Kulturdenkmäler erhalten und pflegen.
Ausgezeichnet wurden in diesem Jahr Preisträger aus drei verschiedenen Kategorien: ein Wiesecker Fachwerkwohnhaus, ein Klinikgebäude auf dem Gelände des Universitätsklinikum und das industriekulturell bedeutende Ensemble des Alten Post- und Fernmeldegebäudes in der Bahnhofstraße. Sie repräsentieren ganz unterschiedliche Bautechniken, Baustile und Nutzungen: Von traditioneller Fachwerkarchitektur für ein Eigenheim über einen repräsentativen Postbau mit aufwendig gestalteter Fassade aus lokalem Sandstein bis hin zu Putzbauten wie das ehemalige Telegraphenamt und die Heilstätte Seltersberg, die Ende der 1920er Jahre entstanden und den Aufbruch in eine neue sachliche Architektur dokumentieren. Wie Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher in seiner Einführung betonte, haben alle Preisträger in enger Abstimmung mit der städtischen Unteren Denkmalschutzbehörde und dem Landesamt für Denkmalpflege Hessen die historische Bausubstanz nach Vernachlässigung oder späteren, die Substanz nicht respektierenden Veränderungen wieder freigelegt und denkmalgerecht saniert. Sie haben in ihrem jeweiligen Bereich Vorbildcharakter für andere Bauträger oder Eigentümer von historischen Gebäuden.
Die Alte Post und das ehemalige Telegraphenamt in der Bahnhofstraße 91 wurden in der Kategorie Post- und Fernmeldegebäude ausgezeichnet.
Das neugotische, ursprünglich aus einem Mittelteil und zwei seitlichen Kopfbauten errichtete spätere Kaiserliche Postamt wurde 1862/63 von Fürst Maximilien Karl von Thurn und Taxis in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs Gießen erbaut. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Telegraphie- und Fernsprechvermittlung folgte 1899 nach Nordosten symmetrisch ein Erweiterungsbau in gleichartiger Architektur und Formensprache aus roten Sandsteinquadern, so dass ein langgestreckter Baukörper mit drei mächtigen Staffelgiebeln entstand. 1927-29 erbaute die Oberpostdirektion im Hinterhof des Postamts ein Fernmeldegebäude mit hohem Mansardwalmdach und farblich dekorativ gestalteter Putzfassade mit expressiv gestalteten Eingangsportalen.
Diese Gebäude zählen zum wichtigsten Denkmalbestand der von Kriegszerstörungen stark gezeichneten Stadt Gießen. Mit großer Sorge wurde der zunehmende Verfall verfolgt, seitdem die Deutsche Bundespost als letzter Nutzer 1994 die Gebäude aufgab und 1998 verkaufte. Nach diversen Eigentümerwechseln entwickelte der Wettenberger Unternehmer Kai Laumann schließlich ein mutiges Revitalisierungskonzept. In enger Abstimmung mit der Denkmalpflege setzte er mit dem Büro Moos Planung GmbH eine bestandsorientierte und denkmalkonforme Neunutzung für Freizeitgastronomie, Wissenschaft, Gesundheit und Dienstleistungen um.
Die aufwendige Generalinstandsetzung erfolgte auf Grundlage einer genauen Bestands- und Schadenserfassung und eines restauratorisch-bauhistorischen Gutachtens.
Die fachgerechte, vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen finanziell geförderte Sanierung der prägnanten, durch Setzungen, Risse, Substanzverluste stark geschädigten Sandsteinfassade der Alten Post bildet sicher den offensichtlichsten und beeindruckendsten Beitrag für die Wiederherstellung des historischen Erscheinungsbilds. Die behutsame Reinigung, Restaurierung und Neuverfugung sowie der Einbau passender Ersatzsteine aus einem lokalen Steinbruch bewahren die Spuren der Zeit – z.B. die Verschmutzungen durch die Dampflokomotiven des benachbarten Bahnhofs. Neben der umfassenden, bestandserhaltenden Dachsanierung und Neueindeckung mit Schiefer wurden ca. 100 historische Fenster restauriert und nur sehr wenige ebenso wie die nicht erhaltenen Außentüren nach historischer Vorlage detailgetreu rekonstruiert. Trotz weitgehendem Verlust der historischen Innenausstattung durch frühere Eingriffe konnten z.B. die Deckenkonstruktionen, Klappläden, gusseiserne Stützen erhalten und wie die historischen Treppenhäuser nach bauzeitlichem Befund saniert werden.
Die Instandsetzung der gesprossten und mit aufwendiger Lüftungsmechanik ausgerüsteten ca. 100 bauzeitlichen Kastenfenster des ehemaligen Telegraphenamts stellte eine besondere Herausforderung dar. Die Sicherung und Restaurierung des historischen Dachstuhls, eine Schieferneueindeckung, der Erhalt der Originalputzfassade und Neufassung nach bauzeitlichem Befund belegen die denkmalgerechte Sanierung. Hervorzuheben ist zudem die den ursprünglichen Raumcharakter erhaltende Umnutzung der imposanten, zwei Stockwerke hohen Fernmeldezentrale zu einem Veranstaltungs- und Medienzentrum.
Mit Einfühlungsvermögen in die alte Bausubstanz, Engagement und einer Aufgeschlossenheit gegenüber den denkmalfachlichen Empfehlungen hat Herr Laumann nicht nur einen sehr wertvollen Beitrag zum Erhalt und Rettung zweier bedeutender Bauwerke und wichtigen Zeugnisse der Technik- und Stadtgeschichte geleistet, sondern auch einen attraktiven Anziehungspunkt am Bahnhofsvorplatz geschaffen. Die Sanierungsmaßnahme erzielt zudem eine vorbildliche Außen- und Signalwirkung.
Informationen zu den beiden anderen Gewinnern, der Ehemaligen Heilstätte Seltersberg – Seltersberg Haus B und der Alten-Busecker Straße 1 erhalten Sie auf giessen.de
Eine Jury aus Mitgliedern des Denkmalbeirats, Mitarbeitern der Unteren Denkmalschutzbehörde Gießen und des Landesamt für Denkmalpflege Hessen, besetzt mit Fachleuten aus den Bereichen Kunstgeschichte, Architektur und Denkmalpflege, hat nach denkmalfachlichen Gesichtspunkten entschieden. Der Preis besteht aus einer Bronzeplakette, die am Kulturdenkmal angebracht wird. Ein Geldpreis ist mit der Auszeichnung nicht verbunden.